Sekunden entscheiden darüber, ob etwas gelesen wird oder nicht
Wir alle leiden unter einem Information Overkill. Die Folge davon ist nicht nur eine immer geringere Aufmerksamkeitsspanne. Wir gehen auch immer selektiver vor, wenn es um die Entscheidung geht, ob wir etwas für wichtig halten, ob es uns interessiert, ob wir uns Zeit dafür nehmen wollen, ob wir das Thema für später abspeichern oder ob wir einfach weiterklicken.
Dafür hat sich jeder seine eigene Strategie zurechtgelegt. Ich bin bestimmt nicht der Einzige, der es dem Mail-Client überlässt, die tägliche E-Mail-Flut so vorzusortieren, dass nur noch die wichtigen Nachrichten im Eingangskorb landen. Dem Rest sehe ich mir später an. Irgendwann. Wenn überhaupt. Die allgemeine Nachrichtenflut aus der Medienwelt sammelt Feedly für mich und ich überfliege sie irgendwann im Laufe des Tages, um mich informiert zu fühlen. Was früher im Zettelkasten landete, findet sich heute in einem Ordner bei Evernote wieder - und wird dort mit Sicherheit auch wieder gefunden.
Früher habe ich vor allem für Printmedien getextet. Für den Grafiker war das schlicht Grauwert, der sein Layout füllte. Für den Leser war es der eigentliche Inhalt und es war meine Aufgabe, ihn gezielt von der Information über die Überzeugung bis zur Kaufentscheidung zu führen. Dabei hatte ich ihn ganz für mich selbst, denn wenn er einen Prospekt oder ein Magazin erst einmal aufgeschlagen hatte, hat er meinen Text zumindest teilweise auch gelesen.
Seitdem wir uns alle digital informieren, hat sich das alles grundlegend geändert. Das Web ist kein Magazin, für das der Leser Geld ausgegeben hat, weil er sich für den Inhalt interessiert. Das Web ist ein gnadenloser Kampf um Aufmerksamkeit. Dabei geht es nicht nur darum, den Leser vor dem Weiterklicken abzuhalten. Viel wichtiger ist es, ihn überhaupt erst auf die Seite zu bekommen. Das heißt, ein Texter wie ich schreibt nicht nur für die Zielgruppe, sondern auch ganz entscheidend auch für Google.
Bei Google selbst habe ich gelernt, dass SEO zwar nicht unwichtig, aber längst nicht mehr entscheidend dafür ist, ob eine Seite unter den ersten Treffern auftaucht oder nicht. Ein Zitat klingt mir heute noch in den Ohren: „Wenn Sie einen guten Text schreiben, wird der fast automatisch SEO-gerecht sein. Er wird die richtigen Stichworte enthalten, denn darum geht es schließlich. Er wird auch die Kernaussagen ganz nach vorne setzen, denn damit wollen Sie schließlich Ihre Zielgruppe überzeugen.“
Für mich war das eine ganz wichtige Erkenntnis, denn es hat mich eigentlich in meiner Überzeugung bestätigt: Ich schreibe nicht für Google. Ich schreibe für meine Zielgruppe. Ich schreibe für Menschen und die empfinden es einfach als schlechten Schreibstil, wenn in einem Text geradezu penetrant immer wieder dieselben Stichworte auftauchen. Folglich hatte ich immer Probleme mit Kunden, die irgendwo gehört hatten, dass ein guter Text für das Internet 5 % Keyword-Anteil haben müsse. Das muss er nämlich nicht. 5 % bedeuten, dass jedes 20. Wort ein Keyword sein muss. Das heißt, dass in dem Absatz, den Sie jetzt gerade lesen, 21x dasselbe Wort oder zumindest sinnverwandte Wörter auftauchen müssten. Das macht keinen Sinn und das fällt den Lesern auch negativ auf.
Das Web ist nämlich kein Bildermedium. Vor allem im Business-Bereich ist es in erster Linie ein Informationsmedium. Wobei Texte für das Web die anspruchsvollsten Texte überhaupt sind. Sie müssen schnell auf den Punkt kommen. Nur so bleibt das Interesse des Lesers erhalten, der schon mit einem einzigen Klick ganz woanders sein kann. Sie müssen kompakt formuliert sein. Schließlich liest niemand gerne lange Abhandlungen am Bildschirm. Vor allem aber müssen Sie klar gegliedert sein und die entscheidenden Argumente bereits in der Headline nennen. Nur so bleiben auch beim flüchtigen Überlesen die wichtigsten Argumente im Gedächtnis hängen.
Von der Illusion, dass meine Texte aufmerksam von der ersten bis zur letzten Zeile gelesen werden, habe ich mich schon im Print-Zeitalter verabschiedet. Wer Unterhaltung sucht, liest ein Buch und nimmt sich Zeit dafür. Wer informiert werden will, geht ganz rational vor und sucht sich gezielt die Textpassagen heraus, die seine Wissenslücken schließen. In der digitalen Welt halte ich es daher bereits für einen Erfolg, wenn die Zielgruppe zumindest die Kernbotschaften mitbekommt.
Bei meinem Reiseblog ist das völlig anders. Zwar formuliere ich auch hier betont kompakt und mediengerecht. Aber aus den Reaktionen der Leser in den verschiedenen Reisegruppen bei Facebook kann ich deutlich herauslesen, dass diese Reiseberichte mit Begeisterung bis zur letzten Zeile gelesen werden. Dabei geht es zwar auch um Information. Aber die hat mit Freizeit, mit Reiselust, mit viel Emotion zu tun und läuft daher offensichtlich unter Lesevergnügen.
Wobei ich es als persönlichen Erfolg verbuche, wenn Sie, lieber Leser, diesen Blogbeitrag bis zur letzten Zeile gelesen haben.